Ich kann keine Tierkadaver sehen. Ich weiß nicht wie es dir dabei geht, aber ich wechsle schon bei toten Klein-Tieren (Maulwurf, Maus, Vogel) die Straßenseite und meide Blickkontakt. Das Anfassen der flauschigen Leichen ist unmöglich, eine Berührung mit Bürste und Kehrblech absolut grenzwertig. Aber mit jedem Jahr das ich älter werde wird der Druck sowas zu können, größer. Bald bin ich Vater und von Vätern wird sowas doch erwartet oder? Spinnen aussetzen kann ich. Aber das mit den toten Tieren… (wie würde Arno Dübel sagen) NO WAY! Glücklicherweise bin ich mit der Sache nicht allein…
Während ich diesen Brief im “Entwürfe-Ordner” liegen habe, passiert ein perfektes Beispiel: Es ist der Tag vor unserer Hochzeit und nachdem wir im 20 Minuten entfernten Lorch, Melinas Brautstrauss abgeholt haben, beginnt es auf der Rückfahrt im Innern des Autos zu riechen… “stinken” beschreibt es besser. Der Geruch scheint aus der Lüftung zu kommen, also Fenster auf.
Als wir zu Hause ankommen, habe ich bestimmt fünfzehn mal mitgeteilt wie eklig ich das finde, und Melina ist kurz davor mir ernsthaft weh zu tun.
Fünf Stunden später steigen wir wieder ins Auto. Dieses Mal fahren wir nur kurz richtung Waldrand, möchten (Hochzeits-)Fotos von uns machen… das gleiche Spiel. Ekelhafter Geruch, ich nehme zum ersten Mal das Wort Verwesung in den Mund. Daraufhin sagt Melina ich wüsste überhaupt nicht wie Verwesung riecht, das es halt einfach stinkt…und stellt die Innenraum-Lüftung auf “4” (“Durchpusten”)
Mir bläst der Mief jetzt also mit voller Kraft ins Gesicht, was ich nicht ertrage und deutlich zum Ausdruck bringe. Melinas Geduldsfaden ist mittlerweile so dünn wie der Lebensfaden von Herkules…(und ich die kleine Alte mit der Schere)
Wir parken und ich flehe sie an in den Kofferraum zu gucken.
Nach kurzer Zeit verzieht sie, über den Motorraum gebeugt, das Gesicht (Ich stehe in sicherem Abstand mit meiner Kamera und halte das fest)
Sie holt Schippe und Stock und schafft es den kleinen, halb zerteilten, Kadaver (wir sind uns bis heute nicht sicher was es war… Favorit ist “Ratte”) auf das rostige Metall zu schieben. Wie das Tier den Weg unter die Motorhaube gefunden hat ist unklar, wo die zweite Hälfte geblieben ist, ebenfalls.
”Wohin damit?” fragt Melina. Ich sage Bio. Das ist falsch. Melina googelt…Restmüll.
Partnerschaft hat viele Vorteile… das ist einer davon!
Mein Vater ist in den 50ern und 60ern auf dem Land groß geworden. Da wurde geschlachtet, der Hund lebte draußen auf dem Hof und die Zimmer wurden sich mit zwei Geschwistern geteilt. Alles etwas rauer. (Ich habe mal mitbekommen wie er morgens im Hof eine Ratte mit der Schippe erschlagen hat…)
In so einer Realität wäre es undenkbar gewesen, dass ein 32 jähriger Mann nicht in der Lage ist, eine zerteilte Maus oder ein, aus dem Nest gefallenes, Küken in die Restmüll-Tonne befördern zu können, ohne das es ihn am ganzen Körper schauert. Ich weiß zwar wie ich über meine Gefühle spreche, mich, meist vor dem Laptop kauernd, kreativ ausdrücke und mein Geld halbwegs vernünftig anlege, aber die Vorstellung ein kleines Reh mit dem Auto zu filetieren, löst direkt erhöhten Puls aus.
Woran könnte das liegen?
Vielleicht…
- an frühen, damals etwas traumatisierenden, Erinnerungen… bin mal als Kind mit meinen Eltern an einigen im Wald “aufgebrochenen” (so nennen das Jäger wenn sie Wild aufschneiden und ausweiden) Rehen vorbeigelaufen. Ich hätte gar nicht mehr aufgehört zu weinen (war aber auch sehr sensibel…)
- an Disney und Wohlstand: Erst fing Walt Disney an Tiere zu vermenschlichen, dann wurde unser Wohlstand so groß, dass wir heute fürs “Vermenschlichen” kein Disney mehr brauchen. Das Leben heutiger Haustiere, ähnelt mehr dem von Kindern. Tote Tiere sind also irgendwie auch “menschlich”.
- an, Achtung wieder ein Jäger-Begriff, “roter Arbeit”. So wird das “aufbrechen” und weiterverarbeiten genannt. Also einfach viel Blut und der ganze Kram… kann ja auch nicht jeder ohne Probleme sehen (Mein Vater hat übrigens Probleme Blut zu sehen, kann aber Raten mit Schippen erschlagen…paradoxe Welt)
- an der fehlenden Konfrontation in der Natur: “EU-Vorschriften verbieten es in der Regel, tote Tiere in der Natur liegen zu lassen. Zwar gibt es Ausnahmen für die Kadaver von getöteten Pflanzenfressern wie Hirschen oder Rehen, diese werden aber meist trotzdem aus dem Wald entfernt, um Spaziergänger nicht zu verstören.” (Christian Smit)
Wie soll man also mit toten Tieren klar kommen, wenn wir Alle es nicht mehr zugetraut bekommen?
Wie kann ich im Umgang besser werden?
Vielleicht…
- sich die positiven Auswirkungen von Tierkadavern für den natürlichen Kreislauf klar machen. Tote Tiere spenden Nährstoffe, sind wichtig für Artenvielfalt und Biodiversität. “Circle of Life” und so… und schon sind wir wieder bei Disney…
- Enttabuisieren und Entmenschlichen von toten Tieren. Der Anblick eines toten Tieres in der Natur sollte kein gesellschaftliches Tabu sein. In einem Online-Artikel werden Tierkadaver mit Totholz verglichen. Beides ist wichtig für den Wald, aber nur an eins davon haben wir Menschen uns mittlerweile gewöhnt.
- näher anschauen. Die Farben, die Formen, die Einzelteile sehen. Wie ein Wissenschaftler oder Künstler. Nah dran… dann wird aus einer Tier-Leiche vielleicht nur noch “rot” oder “blau”… Konfrontation.
Ich komme zum Ende
Vielleicht kann man mir zu Gute halten, dass ich seit 7 Jahren nichts Tierisches esse. So empfindliche Menschen wie ich sollten sich weder Salami noch Leberwurst aufs Brot klatschen.
Wie mit allen Ängsten, muss man sich dem Aussetzen, was man fürchtet. Deshalb nehme ich mir jetzt vor, das nächste Mal die Motorhaube aufzumachen, Schippe und Stock zu holen und das verwesende Tier aus der einen würdelosen Position (im Motor-Raum) in die andere würdelose Position (den Restmüll) zu befördern… (“würdelos” klingt doch schon wieder sehr vermenschlichend) …naja eigentlich hoffe ich einfach nur, dass das so schnell nicht wieder vorkommt 🫣
Bis zum nächsten Mal
(Wenn du mehr lesen möchtest, schau auf meiner Blog-Seite vorbei)
Dein Felix