Nach langer Zeit ein schriftlich, digitales Lebenszeichen. Ich scheine mich mental in einer Art pränatalen Kreativ-Starre zu befinden. Dazu später mehr.
Räumlich betrachtet sitze ich am Sonntag Morgen um 6:37 Uhr im Wohngruppen-Büro am Schreibtisch. Ich trage handschriftlich in mein Notizheft ein, während alle Kinder noch schlafen.
Über mir hängen, neben Spruchschildern “I think i spider” und “bevor ich mich jetzt aufrege isses mir lieber egal”, Absprachen für TV- und Handynutzung, eine Überweisung, Fotos ehemaliger Bewohner, eine Liste aller aktuellen Bewohner (mit Geburtsdatum und Bezugsbetreuer), ein Flucht-, Rettungs- und Tagesplan und die Visitenkarte der zuständigen Oberärztin der Psychiatrie.
Auf einem gelben Post-It steht, dass die Eltern eines Jungen an die offene Rechnung einer kaputten Badezimmertür (eine von vielen Eskalationen) erinnert werden sollen… die sind aber seit Monaten mit ihren Kindern (beide in der Einrichtung) untergetaucht.
Mit Kindern untertauchen ist das Stichwort das uns zurück zur ominösen pränatalen Kreativ-Starre bringt ( je häufiger ich den Begriff schreibe und denke, desto mehr klingt er nach einem anerkannten medizinischen Zustand)
Prä-Natale-Kreativ-Starre… heißt in meinem Fall: Ich mache die gedanklichen Schotten dicht, lasse nur das Mindeste an Informationen rein und raus, während ich versuche mich zu einem ablenkungsfreieren Menschen zu transformieren.
Das macht natürlich kreativ völlig unproduktiv…bekomme aktuell überhaupt nichts hin… aber vielleicht ist es wie mit guten Kompost-Haufen… alles muss sacken, rotten, wird zersetzt… und am Ende entsteht wertvolle humose Erde.
Übertragen bedeutet das: Aus verrotteten Alt-Information wird, mit genug Zeit und Stille, die fruchtbare Grundlage für neue Ideen? (Steile These…wäre aber schön)
Im Umgang mit Kindern gilt in meinen Augen ein Satz uneingeschränkt:
Je weniger abgelenkt die Eltern, desto besser (das gilt natürlich auch für Erzieher und alle anderen Erziehungsberechtigten…sonst könnte ich nicht mitreden)
Menschen, und gerade junge Menschen, spüren wenn sie uneingeschränkt Aufmerksamkeit erfahren. Das hat mit Blick und Körpersprache zu tun.
Offene Augen, neutral, ohne Bewertung, die signalisieren: “Ich höre zu.” mehr nicht. Zugewandt sein.
Das gelingt mir nicht immer, aber versuchen sollte ich es jedes Mal…. während meiner Arbeit als Heilerziehungspfleger und, noch wichtiger, im Umgang mit meiner Tochter.
Uneingeschränkte Aufmerksamkeit ist wichtiger Teil eines liebevollen und wertschätzenden Umgangs. Verhindert wird die häufig durch Ablenkung:
Börsenkurse checken, Youtube schauen, lesen, Hörbuch hören, Instagram, Podcast hören, in der Nachrichten App lesen, schnell eine Überweisung machen, sich bei Thomann Mikrofone anschauen, Serien gucken, rausgehen, auf dem Crosstrainer Xbox spielen… du weißt schon… ist bei uns allen etwas anderes.
Seit uns die menschliche Gemeinschaft von der Last entbunden hat permanent zu jagen, zu sammeln oder zu produzieren, werden wir unterhalten, sprich abgelenkt. Dabei bringt es nichts zwischen “guten” und “schlechten” Ablenkungen zu unterscheiden. Auch ein Buch lesen oder Hörbuch hören kann Flucht sein, kann uns vom Wesentlichen abhalten.
Es gibt immer ein “zu viel”, egal ob bei der Bildschirmzeit oder beim Lesen. Wenn wir irgendwann nur noch am Informationen aufnehmen sind und nichts mehr verarbeiten oder anwenden können… (wie Metall im Komposthaufen) dann ist das weder sinnvoll noch produktiv, noch liebevoll…wir sind einfach nur abgelenkt.
Laut Prognose bin ich in einem Monat Vater. Und weil mir wenig mehr weh tut als ins Smartphone schauende Eltern und erlernte Foto-Posing Gesichter der Kinder (ein passender Sketch von “Browserballett”) , versuche ich im Vorfeld gegenzusteuern.
Mein Ziel: Das Smartphone kommt weg. Dafür musste ich ironischerweise erstmal Geld ausgeben… letztendlich aber nur einen Bruchteil des nächsten Iphones (das wäre nach 5 Jahren Nutzung meines SE vermutlich nächstes Jahr fällig)
Ich habe mir ein ablenkungsarmes Set zusammengestellt.
-ein Nokia 105 4G (25 Euro bei Tchibo)
- ein moderner Tan -Generator der unabhängig vom Smartphone mein Banking möglich macht (19,99 Euro)
- eine billige Casio-Uhr (19,99)
Ergänzt werden die drei Neuen durch etablierte Kräfte:
Meine Kamera, ein Diktiergerät, ein Notizbuch und ein Stift.
Ich kann festhalten was ich festhalten muss (Fotos, Gedanken) ohne den unterhaltenden, süchtig-machenden Faktor.
Probleme macht mir aktuell noch das 49 Euro Jobticket. Das wird über die DB App ausgegeben und ist nicht als Plastikkarte (E-Ticket) erhältlich.
Der Schritt weg vom bequemen Alles-Könner-Super-Computer in der Hosentasche fühlt sich seltsam an. Der Informationsfluss wird abgeschnitten. Keine Podcasts, Hörbücher, Nachrichten-Apps, Kommunikation. Beim Spazieren, beim Warten, beim Zugfahren. Da ist auf einmal Stille.
Ganz ungewohnte Stille.
”Bin ich abgeschnitten, bekomme ich noch Nachrichten von Freunden?” fragt man sich und stellt dann beruhigt fest: Natürlich… es geht nur um die Aktualität (die fast immer weniger wichtiger ist als gedacht).
Morgens, wenn ich sowieso am Computer arbeite, schaue ich in die Whatsapp-App auf dem Mac und beantworte alles. Das geht in meinem Fall sogar wesentlich schneller und ausführlicher (ich schreibe extrem langsam auf einem Smartphone Screen)
Wichtiges kommt per Anruf oder SMS auf meinem Nokia an.
Während meiner 35 Minuten Arbeits-Fußweg durch den Wald (kein Hörbuch sondern knackende Äste und die eigenen Schritte im Ohr)
muss ich an Schriftsteller, Philosophen, Erfinder und alle Anderen denken, die das Gehen als Ideenmaschine und Blockaden-Brecher nutzen. Keine Informationen aus fremden Mündern verarbeiten, das hilft die eigene Stimme zu hören und das bringt mich hoffentlich meinem Ziel, der uneingeschränkten Aufmerksamkeit näher. Gegenüber meiner Frau, meiner Tochter und mir selbst (wie erwachsen das klingt)
Wo wenig rein geht, da geht auch weniger raus. Deshalb verharre ich in meiner Kreativ-Starre, in großer Erwartung und Vorfreude und in Liebe zu Melinas Bauchbewohnerin. Mit so wenig Ablenkung wie möglich die humose Erde auf dem mentalen Kompost entstehen lassen… für alles was da kommt.
Bis zum nächsten Mal!
(Wenn du mehr lesen möchtest, schau auf meiner Blog-Seite vorbei, für Videos auf meinem Youtube-Kanal